Michael* steht mit seinem Stand am Ausgang eines Möbelhauses in Hamburg. Ich laufe an einem Spätsommertag bepackt mit Taschen an ihm vorbei. Stolz wie Lumpi: Ich habe wirklich nur das gekauft, was ich wollte. Gut, vielleicht ein zwei Sachen mehr. Aber das liegt innerhalb der Toleranz. Mein Blick fällt auf eine Hinz und Kunzt, die Erwerbs- und Obdachlosenzeitung in Hamburg, dann auf das Gesicht des Mitfünfzigers der sie in der Hand hält. Er lächelt. Ich blicke wieder auf die Zeitung, schüttle den Kopf leicht, er nickt mich dafür um so energischer an. Ich gehe weiter. Wie so oft. Wie fast alle immer. In Gedanken fülle ich bereits meine Waschmaschine mit den Erzeugnissen glücklicher chinesischer Kinder.
An der Bushalte stelle angekommen muss ich nicht lange warten. Nicht auf Michael und auch nicht auf den Bus. Keiner wechselt ein Wort. Zwei osteuropäisch klingende ältere Damen in der Nähe des Mülleimers unterhalten sich leise, aber angeregt, über Überschwemmungen andernorts. Ich finde einen Platz, links neben mir sitzen meine Taschen, rechts neben mir auf der anderen Seite des Mittelgangs hat Michael für diese kurze Reise zur U-Bahn seine Zelte aufgeschlagen. Rechts neben ihm liegen die unverkauften August-Ausgaben, die er nun, da morgen der September sein Stelldichein gibt, kaum noch wird unter das Volk bringen können. Mich begleiten derzeit immer verschiedene Ordner mit Wohnungsanzeigen und ein Collegeblock für Gedankenblitze. Gleich neben der nachgefüllten Mineralwasserflasche und dem mp3-Player. Dazu kommt dann die noch aktuelle H&K-Ausgabe. Ich überlege kurz, zögere, halte sie dann aber doch einfach kommentarlos in Richtung des nun ebenfalls auf dem Heimweg befindlichen Verkäufers. Nach einem Moment fange ich an heftig zu nicken: „Ich hatte sie bereits. Sorry.“ „Toll, das ist ja schön.“ Wo war das Eis hin?
Michael ist schon Jahre dabei. Doch in letzter Zeit geht es aufwärts. Endlich mal, wieder nach Jahren von Sucht und Suche. Und Scham und Aussichtslosigkeit. Von alledem erzählt er. Seine Brille ist ein wenig schief, der Dreitage-Bart wirkt dennoch auf seine Art akkurat gestutzt.
„Ich will dir etwas mitgeben, und das meine ich nicht lehrerhaft.“, erzählt er. Wir steigen schon zusammen die Treppen der U-Bahn-Station herab. Wir sind sie aus unterschiedlichen Gründen beide so oft gegangen, dass wir uns dabei weiter angucken können. „Es ist nicht schlimm krank zu sein und Probleme zu haben. Schlimm ist es, wenn man nichts dagegen tut! Und wenn man schlussendlich beginnt selbst daran zu glauben. Dann kann man es nicht mehr stoppen. Jedenfalls nicht alleine.“ Für ihn war die Hilfe anderer existentiell. Hat er zuvor hat all seine Energie darauf verwendet, sich nicht anmerken lassen, dass es ihm nicht gut ging, so floss sie nun in eine Therapie. „Ich war Jurist und hab‘ in den Jahren nach der Wende mit Geld im Stundentakt gedruckt“, berichtet er aus seinem Leben. Zu dem er steht, auch wenn eine Menge falsch gelaufen ist. Darüber nachgedacht hat er viel die letzten Jahre.
Darüber, dass er sich beim Drucken selbst, sein Leben, seine Liebe vergessen hat. Seine Kinder kennen ihn kaum. „Statt mit meiner Frau war ich mit meinem Job verheiratet“, muss er heute zugeben. Ein perfekter Mitarbeiter: motiviert, flexibel, wenig Urlaub. Und selbst dann immer erreichbar – außer für seine Familie. Er hatte alles. Bis seine Frau ging und die Kinder mitnahm. „Meine Kinder sind mir sehr wichtig. Vergiss den ganzen anderen Kram. Das Geld, den Job, die Erwartungen der Leute. Ich lebe nun viel mehr als früher – ohne den ganzen Kram.“ Michael holt noch mal Luft: „Wenn ich heute mal in der Stadt bin und die ganzen jungen Manager mit ihren Anzügen sehe, da bekomme ich das Kotzen. Weil sie glauben das sei das Leben. Das ist nicht das Leben! Schlimm ist das.“ Er wird aggressiv, die linke Hand versucht sich in den vergilbten Kunststoff der Bahn zu graben.
„Es gab früher einige Bekannte, die meinten: Was kann dich eigentlich umwerfen?“ Er hat immer den starken gemimt. „Mir kann so etwas doch nichts anhaben“. Selbst nach dem zweiten Herzinfarkt war er immer noch der Meinung, das Leben müsse weitergehen, die Show vom starken Mann. Den Schrittmacher realisierte er wohl schon irgendwie nicht mehr. Er begann das Trinken um die vielen Sorgen noch vergessen zu können, dazu Tabletten um das Leben wieder „beherrschbar“ zu machen – solange bis ein Arzt ihm eröffnete: „Wenn Sie noch etwas zu regeln haben, dann regeln Sie es nun. Wir geben ihnen noch 2 Wochen.“ „Da wird man aber ganz schnell nüchtern.“ Die ARGE wollte die Mietwohnung, die er seit dem Auszug seiner Familie alleine bewohnte, nicht mehr bezahlen. „Nur ein paar Quadratmeter zu viel.“ Er bleibt dennoch ruhig. „Ich wusste es ja eigentlich, habe aber nichts mehr gemacht. Irgendwann kam dann der Gerichtsvollzieher und setzte mich auf die Straße.“
Es folgten zwei Jahre auf Asphalt. „Ein anderer Penner, der noch schlimmer drauf war als ich, hat mich damals irgendwann zu H&K geschleppt. Dort bekommt man einen Vorschuss von 10 Zeitungen umsonst. Ich habe die Leute nicht angesehen, ich wollte Sie nicht verkaufen.“ Es war der Moment, in dem ihm klar wurde wo er war, wer er war. Er war nicht so stark wie er tat, er wollte es nur nicht zeigen. Und nun sahen es plötzlich alle. Und den allermeisten war es auch noch gleich. Erreichbar war er nicht mehr. Auch deshalb, weil er kein Handy mehr hatte. Die Maske bestand eine Zeit lang aus wechselnden Handy-Nummern, die er weiter gegeben hatte um erreichbar zu sein. „Kaum etwas tarnt so gut wie Arbeit, da stellt keiner Fragen. Es ist allgemein akzeptiert. Wer viel schuftet ist nützlich, den fragt man nicht, sonst könnte ich als Faulenzer da stehen.“
Das war. „Vor zwei Wochen habe ich mit meiner Familie gesprochen. Das war schwer. Es fühlt sich unglaublich gut an. Sie haben gesagt, sie hätten nichts mitbekommen, nur gedacht. Aber gewusst haben sie nichts, und sie haben auch nicht gefragt. Aus Scham. Genauso wie ich nicht um Hilfe bitten wollte.“ Die Angst davor, die Maske zu verlieren, war größer als die Angst vor morgen. „Nun versuche ich nicht mehr die Opferrolle zu spielen, mehr zu das Steuer zu übernehmen.“ Er zupft sich das ein wenig zu große graue Polohemd zurecht. „Durch meine Arbeit kann ich mir mal wieder was kaufen. Und… ich bin nicht mehr obdachlos. Ich kann mir für 15€ pro Nacht ein Zimmer mieten.“ Auf die Nachfrage hin, ob die Arbeit ihm Selbstwertgefühl wieder gebe steigert sich seine Laune noch weiter: „Ja klar! Das ist wichtig. Ich kann mir meine Zeit selbst einteilen. Allein die Möglichkeit zu haben für sein Tun eine Wertschätzung zu erhalten. Und nun mache ich auch noch praktische Sozialarbeit mit dir.“
Wir fahren in meine Endstation ein. Ich werde die Bahn hier verlassen, rücke die Taschen zurecht und schwanke während des Bremsens hin und her. „Hat mich sehr gefreut, ich wünsche dir alles Gute!“ „Danke, dir auch. Was willst du nun tun?“ „Ich weiß es nicht, vielleicht ziehe ich nach Bremen?“ „Eine wunderschöne Stadt. Ich habe noch Verwandtschaft dort.“ „Naja, vielleicht sehen wir uns ja noch ein Mal.“ „Ja, und dann tauschen wir Handy-Nummern aus!“
*Name geändert
Du beeindruckst mich. Der Text beeindruckt mich.
Wollte ich mal sagen.
Und habe ich gesagt… :-)
Danke :-) Ist franksagt.de wirklich unter deiner Obhut?
Jo. Ist so. Stimmt da etwas nicht?
Nein, ist schon in Ordnung. Spätestens als nach der Lektüre meiner bakteriellen Herkunft mit einiges Buzzwords war es mir klar ;-) Muss ich mir mal Zeit nehmen irgendwann…